Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte die französische Automobilindustrie zweifellos zur Weltspitze. Im Land von Daimler und Benz wird oft übersehen, welche Rolle Frankreich einst bei der Entwicklung alltagstauglicher Fahrzeuge gespielt hat. Firmen wie De Dion-Bouton, Panhard und Peugeot trugen zu dabei, dass die Motorisierung in Frankreich weit rascher voran kam als auf der anderen Seite des Rheins.
Während hierzulande das Spekulationsfieber um Großserienfabrikate von Mercedes und Porsche anhält, lohnt sich für den an echten Raritäten Interessierten ein Blick zurück in die automobile Vergangenheit bei unseren Nachbarn in Frankreich. Immer wieder finden sich dort einzigartige Überlebende aus einer Zeit, in der unzählige Marken die Entwicklung der Mobilität vorantrieben.
Einem solchen faszinierenden Veteranen ist der Verfasser beim 2015er Concours d’Elegance auf Schloss Chantilly nördlich von Paris begegnet. Dort war inmitten der barocken Pracht auf einem eigenen Podest ein unberührter Tourenwagen von Turcat-Méry aus dem Jahr 1919 zu bewundern.
Die Marke wurde 1899 von zwei autobegeisterten Universitätsabsolventen aus Marseille gegründet, Léon Turcat und Simon Méry. Ihre ersten selbstentwickelten Fahrzeuge errangen lokal rasch den Ruf besonderer Qualität. 1902 beschloss man, mit der Firma De-Dietrich unter der Marke Turcat-Méry Fahrzeuge für einen größeren Markt zu produzieren. 1911 endete die Kooperation wieder, nachdem sich bereits 1905 ein Mitglied der Familie De Dietrich mit der Marke Lorraine-Dietrich selbständig gemacht hatte. Nach dem 1. Weltkrieg kam Turcat-Méry nicht wieder richtig auf die Beine. Wie anderen kleinen Marken auch machten Rohstoffknappheit und hohe Kosten der Firma zu schaffen. Nach dem gescheiterten Versuch, einen Kleinwagen zu bauen, wurde die Firma 1929 liquidiert.
Der in Chantilly gezeigte Turcat-Méry PJ6 Grand Sport von 1919 war zwar eine Vorkriegskonstruktion, konnte aber nach wie vor als zeitgemäß gelten. Der 6-Zylinder-Motor mit 9,5 Liter Hubraum verfügte über eine obenliegende Nockenwelle, die von einer Königswelle angetrieben wurde. Man vermutet, dass das hochwertige Aggregat von Lorraine-Dietrich zugekauft wurde, wo man auch Erfahrung mit modernen Flugmotoren gesammelt hatte.
Die herrliche Torpedo-Karosserie wurde von der feinen Pariser Manufaktur Million-Guiet geschneidert, die bis 1943 existierte und Luxuswagen vom Kaliber eines Bugatti, Hispano-Suiza und Rolls-Royce einkleidete. Interessant ist die Form des Kühlergrills, die in ähnlicher Form bei den Grand-Prix-Wagen von Alfa-Romeo in den 1920er Jahren wiederauftaucht.
Ausgeliefert wurde der Wagen seinerzeit an Ferdinand d’Orléans, Duc de Monpensier, der im Chateau de Randan in Zentralfrankreich residierte. Die gleichsam adlige Abkunft des Turcat-Méry sollte sich später noch als verhängnisvoll erweisen. So wechselte das nie restaurierte Fahrzeug seit 1997 mehrfach den Besitzer und landete zwischenzeitlich in den USA. Jedoch stellte sich heraus, dass es Frankreich niemals hätte verlassen dürfen, da seit 1991 alle auf Chateau de Randan befindlichen Gegenstände besonderen Schutz als unveräußerliches französisches Kulturgut genossen.
Zwar durfte der amerikanische Erwerber den Wagen formell behalten, musste ihn aber nach Frankreich zurückbringen. Lediglich für begrenzte Zeit sind ihm Präsentationen des Turcat-Méry außer Landes gestattet. Der Eigentümer scheint sich damit arrangiert zu haben und nutzte in Chantilly die Gelegenheit, den Wagen an besonders prominenter Stelle zu zeigen.
Es fällt schwer, sich der Ausstrahlung des rassigen Fahrzeugs zu entziehen, das die Spuren von fast 100 Jahren mit Würde trägt und doch so solide und zuverlässig wirkt wie am ersten Tag. Weitere Detailfotos finden sich in diesem Beitrag von The Old Motor.
Quelle: Michael Schlenger