Wenn es „den“ Klassiker aus dem Hause Fiat gibt, dann dürfte das der legendäre 500er (Cinquecento) sein. Er ist im kollektiven Gedächtnis mehrerer Generationen präsent wie kein anderer Wagen der Turiner Marke. Dazu trägt neben der unwiderstehlichen Form auch die Eignung als Alltagswagen bei, die der 500er vor allem im Süden Italiens immer noch unter Beweis stellt. In der Tat dürfte es bis heute kein Auto mit vergleichbarem Raumangebot geben, das so für die engen Gassen der historischen Altstädte taugt – und das bei minimalen Unterhaltskosten, bester Teileverfügbarkeit und hoher Wertbeständigkeit.
Von vielen vergessen ist dagegen ein anderer großer Wurf von Fiat, dem ein vergleichbar langes Leben in der Firmenhistorie beschieden war, der aber dennoch auch in Italien eine Rarität geworden ist. Die Rede ist vom 1100 – dem Millecento – der deutlich oberhalb des 500er angesiedelt war und in vielen Ländern bis in die 1970er Jahre als zuverlässige Familienlimousine geschätzt wurde.
Vorgestellt wurde der 1100er im Jahr 1937 unter der Bezeichnung 508 Nuova Balilla 1100, die an den Namen des Vorgängers anknüpfte. Der Viertürer überzeugte auf Anhieb durch seine zeitgemäße Ausstattung und Leistung. Der wassergekühlte 4-Zylinder-Motor leistete anfänglich gut 30 PS, was eine Höchstgeschwindigkeit von knapp 100 Stundenkilometer erlaubte.
1939 wurde die Karosserie überarbeitet und der Wagen wurde nun erstmals als Fiat 1100 bezeichnet. Charakteristisch für diese bis in die späten 1940er Jahre gebaute Version ist der keilförmig zulaufende Kühlergrill. Einen Wagen dieses Typs sieht man auf dem folgenden Bild aus „Motor und Sport“ von Januar 1943. Es zeigt italienische Soldaten einer zeitweilig auf dem Ladogasee bei Leningrad stationierten Torpedobooteinheit beim technischen Dienst an einem Fiat 1100 mit Tarnscheinwerfern.
Nach Kriegsende wurde der Fiat 1100 in mehreren Schritten weiterentwickelt. Dabei wurde der Motor nur graduell verändert, aber nicht grundlegend neu konstruiert – und das bis zum Ende der Produktion der Baureihe im Jahr 1969! In Indien wurde der 1100er in Lizenz sogar bis 1997 weiter gebaut, zuletzt allerdings mit einem Motor von Nissan. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die aus den späten 1930er Jahren stammende Grundkonstruktion des Motors über die Jahrzehnte eine stetige Leistungssteigerung im Serienmodell auf zuletzt knapp 50 PS erlaubte, ohne dass dadurch die Zuverlässigkeit gelitten hätte oder der Verbrauch stark in die Höhe gegangen wäre. Bei so günstigen Voraussetzungen verwundert es kaum, dass der Motor des 1100 von Anfang an als Basis für sportliche Versionen genutzt wurde – von Fiat selbst und einer Vielzahl von Tunern. Sie kitzelten aus der grundsoliden Maschine Sportwagenleistungen heraus, die für Rennen vom Kaliber der Mille Miglia und der Targa Florio ausreichten.
Gleichzeitig nahmen sich zahllose Karosserieschneider der Nachkriegszeit des 1100er an und zauberten aus der unauffälligen, aber stets zeitgemäßen Großserienlimousine teils spektakuläre Sportcoupés und Spider. Zum Vergleich hier zunächst ein Pressefoto der Serienausführung des 1100 D von 1964, der faktisch über einen auf 1200ccm aufgebohrten Motor mit 48 PS verfügte. Die Linien sind unprätentiös, aber nicht bieder – man glaubt gerne, dass an diesem Entwurf die Designschmiede Pininfarina beteiligt war.
Dagegen kündet die auf derselben Plattform basierende, zeitgleiche Coupé-Karosserie von OSI von der Welt der Schönen und Reichen. Der rassige Hüftschwung verrät die Hand von Altmeister Michelotti und OSI ließ es sich nicht nehmen, dem Motor noch eine Leistungsspritze zu verpassen.
Mit 58 PS und der gekonnten Coupé- bzw. Spider-Karosserie hätte der Wagen das Zeug zu einem größeren Erfolg gehabt. Doch die kurzlebige Turiner Firma war nicht auf Massenproduktion eingestellt und auch die parallele Fertigung des Modells im Heilbronner Fiat-Werk blieb den Stückzahlen nach überschaubar. Der Markt für solch „unvernünftige“ Autos war wohl zu klein und für gutsituierte Käufer gleichzeitig das Prestige zu gering. Heute gehören die unter der Marke „Neckar“ gebauten deutschen OSI Fiat übrigens zu den besonders raren Modellen, wobei man schon die Serienlimousine nur noch äußerst selten zu Gesicht bekommt.
Was echte Könner aus dem Motor des Fiat 1100 herauszuholen vermochten und welch‘ atemberaubende Karosseriekreationen möglich waren, das zeigte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere der Tuner Stanguellini aus Modena. Bis 1948 verwendete er den zugekauften Motorblock des 1100er Fiat und kombinierte ihn mit einem Leichtmetall-Zylinderkopf. Damit waren je nach Spezifikation Leistungen zwischen 50 und 100 PS möglich. Später setzte Stanguellini mit großem Erfolg auch eigene Motoren mit zwei obenliegenden Nockenwellen ein.
Ein schönes Beispiel für einen frühen Nachkriegs-Stanguellini mit modifiziertem Motor vom Fiat 1100 zeigt das folgende Video. Der italienische Besitzer erzählt darin, dass seine Familie an der Strecke des traditionsreichen Bergrennens von Parma nach Poggio di Berceto (ausgetragen zwischen 1913 und 1955) wohnte und er so bereits als Junge mit Rennsportwagen der Zeit konfrontiert wurde. Inspiriert von den Fahrzeugen, die damals an der Haustür vorbeirasten, kaufte sein Vater 1955 aus purer Leidenschaft einen Stanguellini aus dem Jahr 1948, der an solchen Rennen teilgenommen hatte.
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Der Wagen blieb bis heute in Familienbesitz und wird seit der Wiederauflage des Rennens Parma-Poggio di Berceto im Jahr 1977 bei historischen Rennsportveranstaltungen eingesetzt. In akribischer Arbeit hat der heutige Besitzer die gesamte Renngeschichte des Stanguellini nachvollzogen. So weiß er zu berichten, dass sein Wagen nicht nur an Bergrennen, sondern auch an der Mille Miglia, der Targa Florio auf Sizilien sowie an Grand-Prix-Läufen in Rom und Neapel teilgenommen hat.
Übrigens trägt der Stanguellini noch die originale Startnummer von seinem Einsatz bei der letzten „echten“ Mille Miglia im Jahr 1955. Dabei steht 514 für die Startzeit des Wagens: 5 Uhr 14 Minuten. Ein weiteres historisches Detail ist der Schriftzug „La Micia“ nebst einem frech schauenden Katzenkopf. Auf diese charmante Weise hatte der vorherige Besitzer den Spitznamen seiner Partnerin auf dem Fahrzeug verewigt, die ihm die Rennerei mit dem Stanguellini ermöglicht hatte.
Die Karosserie des Stanguellini hat natürlich nichts mehr mit dem Fiat 1100 zu tun. Sie besteht aus Aluminium und ist über einen klassischen Rohrrahmen aufgezogen. Kaum vorstellbar ist, dass der Wagen sein heutiges Erscheinungsbild einem lokalen Karosseriehandwerker zu verdanken hat. Ursprünglich besaß das Fahrzeug nämlich lediglich eine torpedoförmige Karosserie mit freistehenden Rädern. Da die Teilnahme an einigen Rennen jedoch das Vorhandensein von Kotflügeln voraussetze, wurde solche von dem unbekannt gebliebenen Spengler nachträglich angebracht und auf stilsichere Weise mit der eigentlichen Karosserie verbunden. Das Ergebnis ist absolut stimmig und macht den Stanguellini zu einer noch größeren Rarität.
Auch wer des Italienischen nicht mächtig ist, bekommt bei den Erzählungen des bodenständig daherkommenden Besitzers eine Ahnung von der Leidenschaft, die ihn mit diesem einzigartigen Fahrzeug verbindet. Solche Leidenschaft ist der schönste Zugang zur Welt klassischer Automobile.
Quelle: Michael Schlenger