Autos aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und den ersten Jahren danach haben einen ganz besonderen Reiz. Die Vielfalt an Marken und technischen Lösungen war damals weit größer als in späteren Zeiten – vom Einheitsbrei der Moderne ganz zu schweigen. Hinzu kommt, dass bei Wagen aus dem frühen 20. Jahrhundert die Technik noch direkt erlebbar ist und der Betrieb besonderes Können verlangt. In einer Zeit, in der viele Fahrer Einparkassistenten und andere Hilfen zu benötigen scheinen, erinnern Veteranenfahrzeuge daran, dass der Umgang mit unsynchronisierten Getrieben und manueller Zündverstellung für Automobilisten einmal selbstverständlich war.
Fahrzeuge aus den Pioniertagen wurden in Deutschland lange Zeit überwiegend als Kuriositäten betrachtet, die sich in Museen und privaten Sammlungen die Reifen plattstanden. Mittlerweile setzt sich aber die Erkenntnis durch, dass diese Veteranen auf die Straße gehören, wenn die Faszination für die Urahnen moderner Mobilität lebendig bleiben soll. In den USA und England hat es schon immer eine große Schar von Enthusiasten gegeben, die ihre Veteranen regelmäßig fahren und ihnen dabei einiges abverlangen.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Anglo-American Vintage Car Rally von 1954, die seinerzeit vom britischen Vintage Sports Car Club (VSCC) organisiert und mit professionellem Filmmaterial dokumentiert wurde. Die achttägige Fahrt von Schottland nach Sussex führte die bereits damals fast ein halbes Jahrhundert alten Autos durch die schönsten Landschaften Englands mit Halt in bedeutenden historischen Städten wie York, Oxford und Stratford-upon-Avon. Das Ganze stellte zugleich eine Werbemaßnahme der British Travel Association für Urlaub in England dar und zielte vor allem auf amerikanische Besucher ab. Dazu passend reisten etliche Ralley-Teilnehmer per Schiff mit ihren Wagen aus den USA an.
Die Autos der amerikanischen Teilnehmer wurden in Liverpool ausgeladen und sorgten dort bereits für Aufsehen. Denn überwiegend handelte es sich um große und leistungsfähige Typen aus US-Produktion, die in England kaum bekannt waren. Ältestes Fahrzeug war ein Model K von Ford aus dem Jahr 1906. Dabei handelte es sich um einen Oberklassewagen mit Sechszylinder-Motor und 6,6 Liter Hubraum. Das Model K wurde nur zwei Jahre lang gebaut, bevor sich Ford als Massenhersteller mit dem Model T etablierte. Nur wenig jünger war ein Stanley Steamer, dessen Dampfantrieb ihm eine Höchstgeschwindigkeit von über 100 km/h erlaubte – bei fast lautloser Fortbewegung. Die Vorzüge der ausgereiften Dampftechnik überzeugten damals viele Käufer, während der unzuverlässige und laute Verbrennungsmotor noch vielfach skeptisch gesehen wurde.
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Technisch interessant im Starterfeld war auch ein Lanchester von 1913, der als eines der ersten Autos aus britischer Fertigung mit elektrischer Beleuchtung und einem Anlasser ausgestattet war. Die Traditionsfirma Lanchester stand vor dem Ersten Weltkrieg für innovative Lösungen, so gilt sie als Erfinder der Scheibenbremse. Später war man mit ausgereiften Konzepten und bezahlbarem Luxus erfolgreich. Erst 1956 ging diese interessante und unterschätzte Marke unter.
Aus dem Jahr 1914 stammte ein Simplex, als einziger mit Kettenantrieb ausgestattet. Daneben nahmen US-Fahrzeuge wie Pierce-Arrow (1916), Stutz (1919) und Mercer (1921) sowie ein Kissel Speedster von 1923 an der Rally teil. Die Kissel Motor Car Company baute von 1906 bis 1931 auch Feuerwehrautos und LKWs. In einem Kissel durchquerte 1915 die amerikanische Auto-Enthusiastin Anita King als erste Frau allein die USA von West nach Ost.
Das Starterfeld der Anglo-American Vintage Car Rally sammelte sich im schottischen Edinburgh und machte sich dann auf den Weg nach Süden. Die sehenswerten Filmaufnahmen zeigen nicht nur die eindrucksvollen Fahrzeuge und die Schönheiten Englands. Sie erinnern auch daran, dass das Fahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Wind und Wetter nicht nur vergnüglich war. Den Schlusspunkt der Rally markierte der Rennkurs in Goodwood in Sussex, der noch heute für Klassikerveranstaltungen wie das legendäre Goodwood Revival Meeting genutzt wird. Die Teilnehmer der Anglo-American Vintage Car Rally drehten zur Freude des Publikums mehrere Runden auf der Rennstrecke, beendet wurde das Spektakel mit einem Concours d’Elegance.
Text: Michael Schlenger