Fahrerlebnis einst und jetzt – Cadillac von 1912

Motive, einen Oldtimer zu besitzen, gibt es viele: Die einen finden ihre Erfüllung darin, ein hoffnungslos erscheinendes Wrack über Jahre wieder zu beleben. Kaum ist das Fahrzeug fertiggestellt, muss es schon dem nächsten Restaurierungskandidaten weichen. Andere wiederum haben sich ein altes Auto oder Motorrad aus sentimentalen Gründen angeschafft. Vielleicht fuhr ihr Großvater oder der Nachbar ein entsprechendes Exemplar und die Konfrontation im kindlichen Alter hat das unbedingte Bedürfnis geweckt, eines Tages genau dieses zu besitzen.

Wohl das dürftigste Motiv zum Kauf eines historischen Fahrzeugs ist die Hoffnung auf eine kräftige Wertsteigerung. So angenehm es ist, dass die meisten Oldtimer nicht an Wert verlieren, sondern im Lauf der Zeit wertvoller werden können, so sehr bringt einen die Fixierung auf einen Spekulationsgewinn um das eigentliche Vergnügen. Denn auf jeden Fall ist für angemessene Unterbringung und regelmäßige Wartung zu sorgen, während einem die intensive Nutzung gerade bei hochwertigen Exemplaren verwehrt bleibt, wenn man Zustand und Marktwert erhalten will.

Meist auf dem Holzweg ist auch, wer mit einem historischen Automobil oder Motorrad spektakuläre Fahrleistungen anstrebt. So flott sich viele Fahrzeuge vergangener Jahrzehnte bewegen lassen – gerade auf kurvigen Landstraßen – so offensichtlich ist ihre Unterlegenheit in punkto Endgeschwindigkeit, Spurstabilität und Bremsvermögen. Aus den alten Mobilen mit modernen Mitteln das letzte herauskitzeln zu wollen, ist nicht nur riskant. Es kann auch frustrierend sein, wenn man die Leistungen moderner Fahrzeuge gewohnt ist, die denen früherer Rennwagen nahekommen.

Sinnliches Fahrerleben ist das A und O

Trotz oder gerade wegen vieler Unzulänglichkeiten besteht für viele Oldtimer-Besitzer der eigentliche Reiz im Fahrerlebnis. Moderne Wagen nehmen einem inzwischen so ziemlich alles ab, was eine körperliche Herausforderung oder ein sinnliches Erlebnis darstellt. Die objektiv hohen Leistungen der Motoren, die industrielle Perfektion der Verarbeitung und die deutlich gestiegene Zuverlässigkeit werden zur Kenntnis genommen, nicht aber mehr intensiv empfunden oder gar genossen. Das Wachstum der Oldtimer-Szene dürfte auch damit zu erklären sein, dass hier noch eine Intensität des Erlebens möglich ist, die uns im Alltag zunehmend fehlt.

Fahrerlebnis pur
Fahrerlebnis pur © Fotoquelle und Bildrechte: Michael Schlenger

Hat man einmal begriffen, woher der Oldtimer-Virus rührt, kann man gezielt auf die Suche nach Fahrzeugen gehen, die in emotionaler Hinsicht besonderes Potential haben. So hat sich der Verfasser nach einem konventionellen Einstieg über VW Käfer und MGB bis in die 1930er Jahre zurückgearbeitet. Nachdem er den Sprung in die Vorkriegszeit geschafft hatte, lagen auch die Fahrzeuge aus der automobilen Frühzeit nicht mehr fern. Erschienen ihm die Autos der sogenannten Messingära – also der Zeit bis etwa 1920 – anfänglich nicht weiter interessant, so hat sich seine Einstellung durch verstärkte Beschäftigung mit Vorkriegsfahrzeugen grundlegend gewandelt.

100-jährige Automobile bei der „Kronprinz Wilhelm Rasanz“

Die Faszination, die von rund 100 Jahre alten Fahrzeugen ausgeht, hat kürzlich weiteren Schub bekommen. So hatte der Verfasser die Gelegenheit, über eine Strecke von 200 km in einem Cadillac 30 aus dem Jahr 1912 mitzufahren. Anlass war die dritte Auflage der „Kronprinz Wilhelm Rasanz“, die Ende Mai 2015 am Niederrhein stattfand. Initiator Markus Herfort – übrigens der Veranstalter der „Classic Days“ auf Schloss Dyck – hatte wieder Besitzer von Fahrzeugen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eingeladen, um an die historische Fahrt von Schloss Krickenbeck nach Düsseldorf im Jahr 1907 zu erinnern.

Annähernd 50 Fahrzeuge, davon das älteste aus dem Jahr 1899, nahmen an der abwechslungsreichen zweitägigen Ausfahrt teil. Besitzer und Mitfahrer aus sieben Ländern stellten sich der Herausforderung. Neben der offenkundigen internationalen Anziehungskraft der Rasanz war auch die Teilnahme vieler jüngerer Fahrer, Fahrerinnen und Beifahrer erfreulich. Wenn der Generationswechsel in der Veteranenszene gelingen soll, müssen künftige Enthusiasten frühzeitig Gelegenheit erhalten, in die automobile Urzeit einzutauchen. Aus eigener Anschauung kann der Verfasser sagen, dass die Fahrt in einem 100-jährigen Kraftfahrzeug Eindrücke hinterlässt, die über den Tag hinaus wirken.

Der Cadillac 30, Modelljahr 1912

Bevor es daran geht, die eigentlichen Fahreindrücke zu schildern, einiges Wissenswertes zu dem Cadillac 30 von 1912, in dem mitzufahren der Verfasser das Vergnügen hatte. Es handelt sich um ein 4 bis 5-sitziges Tourenfahrzeug mit Verdeck, das die 1902 gegründete Firma Cadillac von 1908 bis 1914 als einziges Modell baute. Stetige Verbesserung, steigende Stückzahlen und sinkende Anschaffungskosten waren dabei das Motiv.

Cadillac 30 von 1912
Cadillac 30 von 1912 © Fotoquelle und Bildrechte: Michael Schlenger

Seinen Rang in der Automobilgeschichte verdankt der Cadillac 30 der Tatsache, dass bei ihm erstmalig ein elektrischer Anlasser verbaut wurde. Auf der untenstehenden Abbildung des Motors ist ein moderner Anlasser zu sehen, da das Originalteil zum Zeitpunkt der Aufnahme überholt wurde. Für weiteren Komfort sorgte eine elektrische Beleuchtung; zuvor waren empfindliche Karbidgas-Scheinwerfer üblich. Der 4-Zylinder-Motor war eine konservative Konstruktion mit anfänglich 30 PS. Auf dieser Basis war im Laufe der Jahre eine stetige Leistungssteigerung möglich, ohne die Zuverlässigkeit des Wagens zu beeinträchtigen. Im Modelljahr 1912 verfügte der Motor des Cadillac 30 über 4,7 Liter Hubraum und eine Höchstleistung von 40 PS. Das Gesamtkonzept des Wagens kam beim anvisierten Vermögenden Publikum gut an: Allein im Jahr 1912 verkaufte die Firma knapp 14.000 Exemplare.

Cadillac 30 Motorraum
Cadillac 30 Motorraum © Fotoquelle und Bildrechte: Michael Schlenger

Eindrücke vom Rücksitz eines 100-jährigen Automobils

Das erste, was dem Passagier im Cadillac 30 von 1912 ins Auge fällt, ist der enorme Fußraum vor den üppig gepolsterten Rücksitzen. Nur sehr wenige moderne Fahrzeuge bieten den Passagieren den Luxus, die Beine ganz ausstrecken und dabei den Komfort eines Wohnzimmersofas genießen zu können. Auch über mehrere Stunden Fahrt bleibt die Sitzposition bequem, und das obwohl vor 100 Jahren niemand bewusst eine orthopädisch vorteilhafte Haltung angestrebt hat. Auf Seitenhalt oder gar Sicherheitsgurte muss man freilich verzichten. Lediglich ein vernickelter Griff an der Rückseite der Vordersitze gibt einem beim Bremsen oder in engen Kurven Halt.

Von Fahrbahnunebenheiten bekommt man dank großzügiger Blattfederung an der Hinterachse nur wenig mit. Allerdings ist zu bedenken, dass der Straßenzustand vor gut 100 Jahren deutlich schlechter war als heutzutage. Vorausschauend fahren war daher geboten, um den Passagieren heftiges Schaukeln der Karosserie zu ersparen. Seitenfenster gab es bei der Tourenwagen-Karosserie des Cadillac 30 nicht. Damit entfallen auch die massiven Dachsäulen, die einem bei modernen Fahrzeugen die Aussicht versperren. Ob das Vorhandensein von Bildschirmen auf der Rückseite der Kopfstützen der Vordersitze dafür entschädigt, erscheint fraglich. Wer einmal erlebt hat, wie in einem historischen Tourenwagen selbst bei geschlossenem Verdeck die Landschaft panoramaartig an einem vorüberzieht, wird diesem unmittelbaren Erleben vermutlich den Vorzug geben.

Unterwegs auf Nebenstrassen
Unterwegs auf Nebenstraßen © Fotoquelle und Bildrechte: Michael Schlenger

Das Fehlen eines festen Limousinenaufbaus hat natürlich auch seine Schattenseiten. Vor allem bei seitlichem Wind sind die Insassen dem Wetter fast ungeschützt ausgesetzt. Bei mehrstündiger Fahrt und Temperaturen zwischen 12 und 15 Grad, wie sie während der Rasanz vorherrschten, bekommt man einen Eindruck davon, dass das Fahren vor 100 Jahren selbst in einem Automobil der Oberklasse nicht immer ein Zuckerschlecken war. Ohne Kopfbedeckung, Schal und Brille sowie einem langen möglichst wasserfesten Mantel ist die Fahrt im offenen Auto bei kühlem Schauerwetter kaum durchzuhalten. Bedenkt man, dass die Wagen jener Ära über keine Heizung verfügten und häufig auch im Winter bewegt wurden, wird einem klar, dass die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Alltag immer wieder Härten ausgesetzt waren, die heute kaum zumutbar wären.

Verdeckmontage
Verdeckmontage © Fotoquelle und Bildrechte: Michael Schlenger

Die Hauptlast lag in jedem Fall beim Fahrer. Denn er musste nicht nur vor der Fahrt durch umfangreiche Vorbereitungen sicherstellen, dass Pannen möglichst vermieden werden. Ihm wurde auch beim Fahren ständige Konzentration abverlangt. So sehr der elektrische Anlasser beim Cadillac 30 den Startvorgang erleichtert, so anspruchsvoll bleibt die übrige Bedienung des Wagens. Schon das Einlegen des ersten Ganges, der nur dazu dient, den Wagen in Bewegung zu setzen, erfordert Gefühl. Der anschließende Wechsel in den zweiten und schließlich den dritten Gang verlangt ebensolche Genauigkeit. Denn mangels Synchronisierung müssen die Getriebezahnräder beim Einkuppeln genau im richtigen Moment zusammengeführt werden. Wie der Verfasser beobachtete, gelingt das auch bei großer Erfahrung und Sorgfalt nicht immer völlig geräuschfrei. Den beiden langjährigen Besitzern des Cadillac 30, die sich beim Fahren abwechselten, forderte jeder Schaltvorgang Konzentration und Entschlossenheit ab, denn der Schalthebel will mit Gefühl und zugleich beherzt umgelegt werden. Die Kupplung greift dabei recht abrupt, an das heute mögliche Schleifenlassen ist nicht zu denken.

Entlastet wird der Fahrer des Cadillac 30 allenfalls dadurch, dass der Wagen in den meisten Situationen im dritten Gang bewegt werden kann. Der hubraumstarke Motor verfügt über ausreichendes Drehmoment, um auch nach einem starken Absinken der Drehzahl wieder ohne Gangwechsel beschleunigen zu können. Überhaupt macht die Maschine einen souveränen Eindruck und zeichnet sich durch ein angenehmes Laufgeräusch aus. Vom Fahrer im Auge zu behalten ist zum einen das Tropföler-Schauglas, das der Kontrolle der Motorschmierung dient, zum anderen der Stand des Kühlwasserthermometers, das sich gut ablesbar auf der Oberseite des Kühlergehäuses befindet. Der Motor des Cadillac 30 ist zwar im Normalbetrieb thermisch stabil. Der Verlust von Kühlwasser oder eine unbemerkte Verstellung des Zündzeitpunkts können aber zu einem unerwünschten Anstieg der Temperatur des Kühlwassers führen. Ein analoges Instrument lässt eine solche Entwicklung früh erkennen, verlangt aber auch ständige Beobachtung.

Regenfahrt
Regenfahrt © Fotoquelle und Bildrechte: Michael Schlenger

Ist der Wagen einmal in Bewegung, erfordert die Lenkung lediglich in engen Kurven einigen Kraftaufwand. Hier ist in den letzten Jahrzehnten viel geschehen, um den Fahrer zu entlasten und die Fortbewegung sicherer zu machen. In einigen Fällen wurde des Guten aber zu viel getan und manche Lenkungen sind arg indirekt und schwammig geworden. Zudem hilft selbst die beste Servolenkung nichts, wenn zum Beispiel das Einparken am Unvermögen des Fahrers scheitert. Die zunehmende Verbreitung von Einparkassistenten wirft dabei die Frage auf, ob es unserer Generation nicht nur an praktischen Kompetenzen, sondern inzwischen auch am Willen zu eigenständigem Handeln mangelt.

Wie kommt man nun in einem 100-jährigen Automobil auf modernen Straßen vorwärts? Um es kurz zu machen: erstaunlich gut. Der Cadillac 30 von 1912 kann mit 60 bis 70 km/h Dauergeschwindigkeit auf ebener Landstraße mühelos mit schwimmen.

Da sich vor dem Ersten Weltkrieg ohnehin nur Vermögende Automobile leisten konnten, hatten die Motoren ungeachtet der verbreiteten Hubraumbesteuerung oft ein großzügiges Volumen und warfen bei niedriger Drehzahl eine zum zügigen Fahren ausreichende Leistung ab. So ist auch der Cadillac 30 von 1912 angesichts seines niedrigen Fahrzeuggewichts mit 40 PS ausgesprochen gut motorisiert. Noch bis in die 1960er Jahre verfügten viele europäische Serienfahrzeuge über kein besseres Leistungsgewicht. Den oft leistungsfähigen und langlebigen Motoren der automobilen Frühzeit standen jedoch rückständige Bremskonstruktionen gegenüber, woran sich bis Ende der 1920er Jahre wenig änderte. Auch der Cadillac 30 verfügte nur über Hinterradbremsen. Immerhin sorgen sie auch bei abrupt erforderlichen Stopps für eine ausreichende Verzögerung. Dabei bleibt jedoch stets die Aufmerksamkeit des Fahrers gefordert, weil die seinerzeit noch seilbetätigten Bremsen meist nicht gleichmäßig ziehen.

Gegenverkehr
Gegenverkehr © Fotoquelle und Bildrechte: Michael Schlenger

Insgesamt hinterlässt die Mitfahrt im Cadillac 30 den Eindruck, dass es sich hierbei um ein durchdachtes, robustes und hochwertiges Fahrzeug handelt, das manch‘ späterer Konstruktion kaum nachsteht. Das Automobil war vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in seinen wesentlichen Grundzügen voll entwickelt und die Fertigung nahm in den Vereinigten Staaten bereits industrielle Züge an. In den 1920er Jahren gab es vor allem in Europa in der Breite des Fahrzeugangebots kaum wesentliche Fortschritte. Stattdessen sorgten die Weltwirtschaftskrise und die kontraproduktive Hubraumbesteuerung in vielen europäischen Ländern dafür, dass vergleichsweise primitive und wenig leistungsfähige Konstruktionen angeboten wurden. In den USA dagegen setzte sich die rapide Entwicklung des Automobilbaus auch nach dem Ersten Weltkrieg nahezu ungebremst fort.

Cadillac erreichte mit dem Bau von 16-Zylindermotoren in den 1930er Jahren eine technologische Spitzenposition wie nie wieder danach. Auch insofern ist die Begegnung mit einem Exemplar aus der Frühzeit der Firmengeschichte ein besonderes Erlebnis. Es zeigt zum einen, dass Innovationskraft nichts Selbstverständliches ist und sich immer wieder aus kreativen Persönlichkeiten und unternehmerischem Mut speisen muss. Zum anderen lehrt einen das Fahrerlebnis, dass unsere Vorfahren vor gerade einmal drei Generationen offensichtlich aus einem anderen Holz geschnitzt waren. Von dem in der heutigen Mittelschicht verbreiteten Lamento über die Zumutungen des Alltags ist aus jener Zeit wenig überliefert. Stattdessen zeichnete sich die Epoche um die Jahrhundertwende von einem unbändigen Willen aus, die Lebensverhältnisse zu verbessern.

So gesehen ist die Fahrt in einem hundertjährigen Automobil eine Zeitreise, die einen tief in die Vorstellungs- und Erlebniswelt unserer Vorfahren transportiert. Das damit verbundene körperliche und sinnliche Erleben ist von einer Intensität, die uns heutzutage zunehmend abhandenkommt. Es dürfte kein Zufall sein, dass die Angebote an künstlichen Ablenkungen und praktischer Lebenshilfe im gleichen Tempo zunehmen, wie konkrete Härten und Herausforderungen im Alltag verschwinden. Aus eigener Erfahrung lässt sich sagen, dass der Besitz und Betrieb eines echten Oldtimers einen in jeder Hinsicht vollauf in Anspruch nimmt und gegen manche Zivilisationskrankheiten immunisiert.

Erlebnis pur
Erlebnis pur © Fotoquelle und Bildrechte: Michael Schlenger

Text: Michael Schlenger