Es ist noch nicht lange her, da konnte die Klassikerszene hierzulande mit dem Begriff „Patina“ wenig anfangen. Ein historisches Auto oder Motorrad hatte „restauriert“ zu sein, worunter man eine weitgehende Annäherung an den einstigen Neuzustand meinte. Ansonsten erntete man skeptische bis abschätzige Blicke, wenn bei einem Oldtimer der Lack stumpf, das Leder speckig und das Holz rissig war, insbesondere dann, wenn es sich um eine besonders prestigeträchtige Marke handelte. Ein Vorkriegs-Mercedes mit blindem Chrom, wurmstichigem Armaturenbrett und angelaufenen Messingschrauben im Motorraum, das gehörte sich nicht. Eine alte Boxer-BMW mit matt polierter Linierung, abgenutzten Fussrasten und zerbeultem Auspuff, das galt als ungepflegt.
Unsere Nachbarn in Frankreich und England wussten dagegen die Spuren der Vergangenheit an ihren Fahrzeugen schon immer zu schätzen, auch bei Hochpreisklassikern. „Dans son jus“, sagt der französische Kenner, wenn ein Klassiker original und nicht restauriert, aber strukturell intakt daherkommt. „Oily rag condition“ sagt der Brite voller Lob, wenn ein Wagen seit Jahrzehnten einfach nur erhalten wurde, ohne dass ihn jemand ständig mit Kärcher, Politur und Neulack traktiert hätte. In England darf ein Rolls-Royce genauso die Spuren der Jahre zeigen wie ein Austin Seven, je mehr desto besser.
Die Wertschätzung eines technisch funktionsfähigen, aber ansonsten in Würde gealterten Fahrzeugs ist außerhalb Deutschlands kein neuer Trend, sondern lebendige Tradition. Es mag etwas mit der generellen Einstellung zur Vergangenheit zu tun haben, die hierzulande eine andere ist als die bei unseren Nachbarn. Vielleicht wirkt hier der Wille zum gründlichen Neuanfang nach dem Krieg nach, wenn in Deutschland viele meinen, das Alte sei minderwertig, stets müsse alles auf dem neuesten Stand und makellos sein, außerdem wisse man heute alles besser. Man kann dies beim Umgang mit alter Bausubstanz beobachten: Wird in den wohlhabenden Regionen Deutschlands ein Haus aus den 1920er Jahren „kernsaniert“ wird all zuoft das Dach mit neuen Hochglanzziegeln gedeckt, obwohl die alten Tonziegel noch für Jahrzehnte gut wären. Die hochwertig geschreinerten und wohl proportionierten Türen und Fenster aus Holz werden herausgerissen und schlimmstenfalls durch Kunststoffteile ersetzt. Wer im Rhein-Main-Gebiet in ein altes Haus aus der Gründerzeit zieht, kann an den Fußbodenschichten das unüberlegte Wirken jeder Generation der Nachkriegszeit nachvollziehen. Auf den alten Dielen oder gar dem Fischgratparkett wurden erst PVC, dann Teppichboden und schließlich Kunststofflaminat verlegt. Eine minderwertige und wenig dauerhafte Lösung folgt auf die andere, dabei ist das Originalmaterial meist das Beste, Haltbarste und Schönste.
In England dagegen – wo auf den Friedhöfen die Grabsteine noch schief stehen dürfen – lebt man ganz unbekümmert mit den historischen Materialien und den Spuren der Zeit. Es wäre ein Irrtum zu glauben, das sei mangelnden Mitteln geschuldet. Auch Wohlsituierte lassen die alten Sprossenfenster lieber alle paar Jahre streichen, als sich in massives viktorianisches Gemäuer je nach Zeitgeist Aluminiumfenster (70er Jahre), Kunststofffenster in Holzoptik (80er Jahre) oder aktuell angepriesene Dreifachgläser einzubauen. Zum Energiesparen gilt bei den abgehärteten Briten ein dicker Pullover als weit wirkungsvoller und geheizt wird allenfalls das Wohnzimmer, in dem dann abgeschabte Sessel und Sofas mit aufgeplatzten Nähten stehen. Wer einmal in einem englischen Landhaus bei durchaus vermögenden Gastgebern übernachtet hat, wird das nicht als Klischee abtun.
Was das mit klassischen Fahrzeugen zu tun hat? Nun, dieselbe Wertschätzung alter Materialien, Spuren langer Benutzung und ein gewisser Konservatismus im Hinblick auf den „Fortschritt“ liegt bei den Zeugen unserer mobilen Vergangenheit ebenfalls nahe.
Die Anmutung alten, über Jahrzehnte speckig und blass gewordenen Leders gibt es ja nicht „neu“, wohl kann man aber brüchige Stellen und geplatzte Nähte reparieren. Das Holzarmaturenbrett, das ausgeblichen ist und dessen Lack brüchig geworden ist, lässt sich erhalten, ohne dass es abgeschliffen oder gar in billigem Holz nach gebaut und mit Kunstlack versiegelt wird. Samt und Stoff aus dem Innenraum können behutsam gereinigt werden, abgeschabte Stellen dürfen ruhig von der einstigen Anwesenheit der Vorbesitzer erzählen. Fehlstellen können mit altem Material ergänzt werden, so wie das Furnier eines alten Möbels von einem erfahrenen Restaurator auch nur partiell ausgebessert wird. Die einst schwer verchromten Stoßstangen und Fenstereinfassungen mögen nach Jahrzehnten an Glanz verloren haben, hier und da schaut oft schon die Vernickelung hervor. Diese lebendige Oberfläche durch Neuverchromung zu beseitigen, führt bestenfalls zu einem austauschbaren Hochglanzerlebnis und häufiger zu Enttäuschung, weil die Qualität hier sehr oft zu wünschen übrig lässt und die Kosten handwerklich perfekter Arbeit immens sind.
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Ein geschlossener Lack, der über lange Jahre ausgeblichen und stumpf geworden ist, lässt sich weit günstiger wieder aufbereiten und konservieren, als erneuern. Gerade bei Vorkriegsfahrzeugen gelingt es mit heutiger Technik selten, die einstige Lackoptik zu reproduzieren, auch die Farben wirken künstlich und von der schreienden Ästhetik unserer Tage beeinflusst.
Im Ergebnis wird man bei einem erhaltenswerten Zustand mit der Bewahrung und behutsamen Überarbeitung der Substanz nicht nur günstiger fahren und sich manche Erfahrung mit mancherlei Scharlatanen ersparen. Man wird vor allem ein Gesamtergebnis erzielen, das so einzigartig ist, wie man sich sein Fahrzeug doch eigentlich wünscht. Was gibt es Ernüchternderes, als auf Treffen ganze Reihen „auf neu“ gemachter Jaguar E-Types zu erblicken? Die Aura eines der faszinierendsten Fahrzeuge der Nachkriegszeit ist dahin, wenn es aussieht wie ein kompletter Nachbau. Und wie furchtbar die Vorstellung, wie viel intaktes Originalmaterial – Stoßstangen, Innenausstattungen, Bleche – zugunsten einfach verfügbarer und meist minderwertigerer Reproduktionen ohne Not herausgerissen oder gar zerstört wurde.
Bei aller Begeisterung für das in Würde gealterte Original – nicht jeder beliebige Gebrauchtzustand sollte gleich als Patina gepriesen und bewahrt werden. So gibt es Fahrzeuge, die schwere Unfälle hatten, bereits vom Vorbesitzer malträtiert oder vielleicht auch „restauriert“ worden. Hier ist von einer bloßen Konservierung kein sinnvolles Ergebnis zu erwarten. Dann gibt es wiederum Fahrzeuge, die aus mehreren zusammengewürfelt sind oder bei denen nur noch Chassis und Motor erhalten sein. Hier führt am weitgehenden Neuaufbau kein Weg vorbei, wenn man sich nicht eine immobile Skulptur in die Garage stellen möchte – was für manche Sammler durchaus Reiz hat.
Letztlich ist es ein schmaler Grat, auf dem man sich in Sachen Patina bewegt: was sind erhaltenswerte Spuren der Zeit, was sind schlicht hässliche Makel – ist der Zustand eines Fahrzeug noch aus einem Guss, oder ist es ein unharmonisches Nebeneinander von Alt und Neu wie bei vielen angebrochenen Restaurierungen? Will man ein Fahrzeug noch im Alltag bewegen oder soll es als Zeuge der Vergangenheit bewahrt werden? Restauratoren alter Möbel, Musikinstrumente und Gemälde stehen jeden Tag vor einer ähnlich schwierigen Situation. Was wird konserviert, was ergänzt, was erneuert? Das erfordert Erfahrung, Achtung vor der Leistung der Erbauer und Demut hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten.
Man sieht: Patina ist ein spannendes, aber auch schwieriges Thema. Der Umgang damit ist keine exakte Wissenschaft, weshalb sich allzu sachlich Veranlagte schwer damit tun. Man wird daher auch kaum Einigkeit über das Thema darüber erzielen und es wird – wie üblich, wenn es im Oldtimer-Sektor um Geld geht – Übertreibungen und auch Betrug geben. Doch eines kann die Beschäftigung damit bewirken: dass man ausführlich darüber nachdenkt, wie man ein historisches Fahrzeug erhalten möchte, und worin dessen Reiz besteht: nur in der bloßen Form und der technischen Spezifikation oder auch darin, dass es an vielen Spuren erkennbar von unseren Vorfahren, der Geschichte und der Vergänglichkeit ganz allgemein kündet. Ist die originale Substanz und Anmutung dagegen erst einmal getilgt, kann keine moderne Technik sie wieder herbei zaubern. Dabei sollte in Zeiten, in denen von Nachhaltigkeit so viel die Rede ist, Bewahren statt Erneuern beim Umgang die Devise sein, wo dies möglich und sinnvoll ist. Der technische Fortschritt bei neuen Dingen wird dadurch nicht gehemmt – das aktuell technisch Machbare aber unterschiedslos auch auf das Vorgefundene anzuwenden, schadet der wenigen verbliebenen historischen Bausubstanz wie auch unserem technischen Erbe.
Übrigens lässt sich die besondere Ausstrahlung von Patina nicht nur an einem Rolls-Royce der 1930er Jahren erleben – das kann auch ein „gut abgehangener“ Familien-Ford aus den 1970ern leisten und der dürfte inzwischen ähnlich selten sein …
Gastbeitrag: Michael Schlenger