Das Auto als Zeitspiegel

Wer durch ein Automobilmuseum schlendert, aber auch, wer in einem reich illustrierten Buch der hundertjährigen Geschichte des Automobils blättert, der erkennt rasch, dass das Automobil immer Ausdruck seiner Zeit war.

In den Anblick eines Automobils versunken lässt sich die Kultur seiner Epoche erraten und nachempfinden. Wie lebte, dachte, handelte, empfand und gestaltete man? Diese Fragen vermag ein Automobil zu beantworten, das stumm da steht, vorausgesetzt, es ist eines von denen, die wirklich gekauft und gefahren wurden, die auf den Straßen zu Hause waren und im Bewusstsein oder gar in den Herzen der Menschen.

Das Automobil als Typ oder Modell konnte nur erfolgreich sein, wenn es den Zeitgeschmack traf. Das ist der Grund, weshalb wir es rückblickend als Zeitspiegel sehen können.

Ganz besonders eignen sich dafür jene Automodelle, die vom Volke mit einem Spitznamen ausgezeichnet worden waren. Das schafften nur wenige, nur solche, die einen ausgeprägten Charakter hatten, die unverwechselbar und die aufgrund ihrer Fehler und Vorzüge liebenswert waren.

Zwei markante Beispiele sind schnell zur Hand. Die Tin Lizzie (Blechliesl) von Ford und der Käfer aus Wolfsburg, der die Produktionszahl des Ford T Modells noch übertraf.

Fritz B. Busch auf der Landstrasse
Fritz B. Busch auf der Landstraße © Fotoquelle und Bildrechte: Privates Archiv Busch

Die hochbeinige, spindeldürre und etwas schrullige Tin Lizzie, mehr als fünfzehn Millionen mal gebaut und wohl hundert Millionen mal von Hand zu Hand weiterverkauft, erzählt allein schon durch ihre Mitwirkung in hunderten von Stummfilmstreifen die Geschichte ihrer Zeit. Und bei ihrem Anblick sehen wir die Gestalten John Steinbecks aus „Früchte des Zorns“ und „Die Straße der Ölsardinen“ vor unserem geistigen Auge mit ihr umgehen.

Wir sehen die staubigen, unbefestigten Straßen, über die sie dahin stolperte, dem Farmer das Pferd ersetzend und dem Handelsvertreter die Eisenbahn. Wir sehen die Holzhäuser mit der überdachten Veranda und dem Schaukelstuhl, wir sehen die Benzinpumpen, der eisernen Jungfrau gleichend, und wir sehen diese kleinen Provinzstädte, die über die Prärie und über das Farmland hingestreut sind, und vor deren hölzernen Bürgersteigen die Tin Lizzies in langen, schwarzen Reihen parkten wie die Pferde der Cowboys vor den Saloons. Und wir hören die Musik jener Tage, den New Orleans Jazz, den Fox und den Shimmy, den Ragtime und den Charleston.

„Ford hat ein Auto gebaut, das fährt ein wenig laut, es ist nicht wasserdicht und fährt auch manchmal nicht“. Kein Geringerer als Bert Brecht schmiedete diesen Spottvers, und er fuhr selber eine Lizzie.

Sehen wir nicht auch den Bubikopf der Damen und ihre frechen Kleider, deren Taille über den Po gerutscht und deren Saum bis übers Knie hinauf gewandert war? Und Fransen dran, die beim Charlestontanzen so schön wippten.

In diese Zeit hinein hoppelte im Herzen Europas das Hanomag „Kommissbrot“ im Verein mit dem Opel Laubfrosch.

Ersteres so genannt, weil es die Form des für das Militär (den Kommiss) gebackenen Brotes hatte, und letzter, weil er ausschließlich in grüner Lackierung vom ersten deutschen Fließband in Rüsselsheim lief.

Sie waren beide erste Vorboten des „Volks-Autos“, wie man den Traum des kleinen Mannes damals nannte. Sie waren Hoffnungsträger nach der endlich überstandenen Inflationszeit, sie verhießen bessere Zeiten, jene nämlich, die wir rückblickend die „Goldenen 20er Jahre“ nennen.

Drüben überm großen Teich sang man „Yes, we have no bananas“ und hier zur gleichen Shimmy-Melodie „Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir“. Das Koffergrammophon kam in Mode, man konnte nun die Musik mit raus ins Grüne nehmen. Neben dem Kommissbrot oder dem Laubfrosch stand ein Zelt im Grunewald. Picknick.

„Ich hab das Frollein Helen baden sehn, das war schön!“ und „Mein Liebling heißt Mädi und Mädi ist süß!“. So dudelte es von der Schellackplatte, die man im Schatten lagern musste, in der Sonne verzog sie sich.

Die Herren trugen die „Kreissäge“, jenen flachen Strohhut, der auch von drüben gekommen war. Dazu Gamaschen über den Halbschuhen. Richard Tauber sag „Gern hab ich die Frau’n geküsst“. Er fuhr den großen Kompressor-Mercedes, den auch Lilian Harvey bevorzugte – „Liebling, mein Herz lässt dich grüßen“.

Was drüben in den USA der große Duesenberg aus Indianapolis, das war in Deutschland der große Mercedes mit Kompressor aus Untertürkheim. Die Motorhaube konnte gar nicht lang genug sein, die Kotflügel bevorzugte man weit ausladend und kühn geschwungen, Kühler und Lampen mussten gewaltige Dimensionen haben. Das Luxus-Auto war wie im Rausch mit ungebremstem Zeichenstift entworfen worden: „Hoppla, jetzt komm ich!“ Der Idealmann ein Siegertyp wie Hans Albers. Die Traumfrau leicht verrucht wie Marlene Dietrich. „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, und das ist meine Welt, und sonst gar nichts“.

Hans Albers Cadillac
Hans Albers Cadillac © Fotoquelle und Bildrechte: Privates Archiv Busch

Der Traumberuf:“ Flieger, grüß mir die Sonne!“ Die Realität: „Schöner Gigolo, armer Gigolo, man zahlt, und du musst tanzen“. Das Lebensgefühl dennoch: „Veronika, der Lenz ist da“.

Das alles sieht man ihnen an, den Autos der 20er Jahre, die noch so unbekümmert, so unvernünftig, so albern und so naiv sein dürfen.

Es war die große Zeit der offenen Zweisitzer mit dem „Schwiegermuttersitz“ in der Heckklappe. Wer würde sich da heute noch reinsetzen?

Man lebte auch im Auto im Freien, der Siegeszug der Limousine steckte noch in den Startlöchern, sie war erheblich teurer als der offene Wagen.

„Wir zahlen keine Miete mehr, wir sind im Gründen zu Haus’…“. Schlager lügen, wenn sie ausdrücken, was die Menschen empfinden. So ergeht es auch Büchern, die zu Bestsellern werden.

Damals wurde Erich Kästner mit „Emil und die Detektive“ berühmt und Heinrich Spoerl mit der „Feuerzangenbowle“. Geschichten wie offene Zweisitzer mit Schwiegermuttersitz.

„Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln geh’n, sofern die Winde weh’n…“ wer würde das heute noch texten?

Und dann, nachdem wieder eine dunkle Zeit vorüber war, nach Krieg und Not, wie damals nach Krieg und Inflation, war es wieder da, dieses ursprüngliche und unbekümmerte Lebensgefühl. „Pack die Badehose ein“, so klang es an der Schwelle der 50er Jahre. Und wieder einmal, ein allerletztes Mal, durften die Automobile ungestraft naiv sein. Hauptsache es gab sie und man hatte eines. Auch das Kommissbrot hatte sich mit einem Zylinder begnügt. Nun war wieder alles erlaubt, vom „Leukoplastbomber“ (Lloyd 300) bis hin zur „Knutschkugel“ (BMW Isetta).

So naiv die Autos, so naiv die Schlager. „Mandolinen im Mondschein“ – da hören wir den Groschen in den Schlitz der Musikbox fallen. „Ciao, ciao Bambina!“.

Der VW-Export hatte ein elfenbeinfarbiges Armaturenbrett, und der Ford Taunus hatte noch immer Starrachsen hinten und vorn. Beim Käfer musste man noch Zwischengas geben, und seine Trommelbremsen wurden von Seilzügen bewegt. Beim Standard Käfer war das so bis 1964, als man noch ungestraft trällern durfte: „Liebeskummer lohnt sich nicht my Darling!“

BMW baute Mitte der sechziger Jahre noch ein Auto mit zwei luftgekühlten Zylindern, und der Verkaufsschlager bei Glas in Dingolfing war noch immer das Goggomobil mit dem Viertelliter-Motörchen.

Da lachte niemand, wenn Heintje sein „Heidschi Bumbeidschi bum bum“, sang, eher zerdrückte man eine Träne im Augenwinkel. Das Lied wurde 1968 ein Hit. So nannte man nun die Schlager.

In diesen Jahren von damals bis heute ist so viel geschehen, dass wir für unsere Autos von heute keine Spitznamen mehr finden können. Dazu sind sie viel zu vernünftig und vollkommen geworden. Es bleibt uns nur, den Hut vor ihnen zu ziehen – nicht nur, um einsteigen zu können.

Aber unsere Automobile müssen so sein. Sie würden doch sonst nicht in die Zeit passen, deren Zeugen sie sind. Sie werden das auch in fünfzig Jahren sein, wenn jemand zurückblickt, wo wie ich es heute getan habe. Er wird sich nicht darüber wundern, dass manche aussehen wie eine Atombombe auf Rädern.

So war das damals, wird er denken. Man sieht es den Autos an, wie es war. Und sie hatten auch keine Spitznamen mehr.

Quelle: Geschrieben 1987 von Fritz B. Busch für die FAZ