In letzter Zeit häufen sich in der etablierten Oldtimer-Presse hierzulande die Versuche, technisch unbedeutende und anspruchslos gestaltete Gebrauchtwagen wie den Renault Twingo zu Klassikern der Zukunft hoch zuschreiben. Zum Glück steht diesen hilflos anmutenden Versuchen, eine neue Klientel zu erreichen, in der Klassikerszene ein erfreulicher Trend zu vermehrter Rückwärtsorientierung gegenüber: So verstärkt die zunehmende Dominanz kaum noch von Laien begreifbarer, schwer reparierbarer und materialmäßig wenig dauerhafter Automobile das Interesse an wirklich historischen und erhaltenswerten Fahrzeugen. Dabei kann man die gegenwärtige Hysterie um durchaus klassische, aber massenhaft gebauten Wagen der 1960er und 70er Jahre getrost übergehen.
Für den Liebhaber beherrschbarer Technik, langlebiger Materialien und archaischer Anmutung ist der weit stärker ausgedünnte Bestand an Vorkriegsfahrzeugen deutlich interessanter – hier sind die echten Raritäten zu finden, die Kennerschaft und Leidenschaft gleichermaßen fordern. Und damit sind keineswegs nur Vehikel der 1920er und 30er Jahre gemeint, die häufig bereits in industriellem Maßstab gefertigt wurden. Allmählich wieder entdeckt wird vielmehr die noch faszinierendere Welt der inzwischen über hundertjährigen Manufaktur-Automobile aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer heute kaum vorstellbaren Vielfalt an Marken und Modellen, aber auch ästhetisch wie technisch eigenwilligen Lösungen.
In Deutschland sind zwei Initiativen besonders hervorzuheben, die diese hochinteressanten und raren Vertreter der automobilen Frühzeit wieder ins Rampenlicht rücken. Am Niederrhein findet 2015 zum dritten Mal die Kronprinz Wilhelm Rasanz statt, an der vornehmlich Autos bis 1918 teilnehmen.
Und in Dresden hat der Erfolg der 2014 erstmals abgehaltenen Saxonia 100 die Hoffnungen auf weitere Treffen hundertjähriger Automobile und Motorräder in Aktion geweckt.
Wie so oft, wenn es um Veteranen geht, sind unsere britischen Nachbarn schon etwas länger in dieser Hinsicht tätig. Von einer bloß musealen Präsentation wirklich historischer Autos und Motorräder, wie sie bei uns bis in die 1970er Jahre vorherrschte, haben die Engländer zu keiner Zeit etwas gehalten. Das zeigt schon die nie unterbrochene Tradition der Hillclimbs, bei denen Automobile der Vorkriegszeit lustvoll durchs Gelände geprügelt wurden und werden. Dergleichen Schlammschlachten, für die sich auf der Insel übrigens auch Frauen und junge Leute in Scharen begeistern, erscheinen im Heimatland von Hochdruckreiniger und Laubblasgerät nach wie vor schwer vorstellbar, schon gar nicht mit überrestaurierten historischen Gefährten.
Für die englische Philosophie eines beherzten Umgangs mit den Zeugen der automobilen Vergangenheit steht nun auch eine neue ins Leben gerufene Zuverlässigkeitsfahrt. So findet im Juni 2016 erstmals eine Rallye über sage und schreibe 1100 Meilen statt, zu der nur Automobile aus der Zeit vor 1919 zugelassen sind. Die Strecke führt vom äußersten südwestlichen Zipfel Britanniens, Land’s End, quer durch die schönsten Landschaften Englands bis an den nördlichsten Punkt der Insel, John O’Groats. Die Fahrt ist in elf Etappen unterteilt und bedeutet gewiss nicht nur für die alten Fahrzeuge härteste Anforderungen, sondern wird auch deren moderne Fahrer so beanspruchen, wie das im Alltag vor 100 Jahren der Fall war.
Zwar führt die Strecke durch dünn besiedelte Regionen und meidet stark befahrene Straßen, dennoch ist bei einer solchen Distanz unweigerlich mit Komplikationen in Form von Materialermüdung und Defekten zu rechnen. Dennoch dürfte die Aussicht, an dieser wahrhaft exklusiven Rallye für lediglich 40 rund hundertjährige Fahrzeuge teilnehmen zu können, für genügend Enthusiasten verlockend sein. So darf man gespannt sein, welche Fahrzeuge letztlich im kommenden Jahr an den Start gehen und wie sich Mensch und Maschine bei dieser Gewalttour schlagen werden. Die Organisation der Veranstaltung Veteran End to End 2016 liegt in bewährten Händen und wird unter anderem vom Bugatti Owners Club unterstützt.
Auf jeden Fall handelt es sich um eine echte Bereicherung der an außergewöhnlichen Veranstaltungen nicht gerade armen britischen Veteranenszene. Man wünscht sich, dass der Sportsgeist und Optimismus, mit dem unsere britischen Nachbarn solche Herausforderungen angehen, auch hierzulande Freunde echter Veteranen zu weiteren Taten anspornt.
Text: Michael Schlenger