Was man seit einiger Zeit über den FIAT-Konzern zu lesen bekommt, lässt Kennern der italienischen Automobilgeschichte die Haare zu Berge stehen. Das erfolgreichste Modell ist ein aufgeblasener Wiedergänger des legendären Cinquecento, der einst Italien Mobilität bis in den letzten Winkel und in die schmalste Gasse ermöglichte. Die ruhmreichen Konzernmarken Lancia und Alfa Romeo sind seit langem nur noch ein Schatten ihrer selbst, und unter Nachlassverwalter Sergio Marchionne – der gern Pullover trägt und sein Handwerk in Amerika gelernt hat – scheint man diesen Untoten nun endlich den Garaus machen zu wollen. Statt in knapp sitzende italienische Maßanzüge kleidet man sie entweder in ausgebeulte Jogginganzüge der Marke Chrysler oder zwängt sie in banale Turiner Konfektionsware und hängt ein anderes Etikett daran.
Denkt man an einstige Glanzlichter wie Lancia Aurelia, Flaminia und Fulvia, an sportliche Familienkutschen wie Alfa Giulia, aufregend gezeichnete Heißsporne wie Alfetta oder GTV, an klassische Cabriolets wie FIAT 124 Spider und Limousinen wie den auch hierzulande einst beliebten 1100 (Millecento), kommt man schon ins Grübeln. Selbst der klösterlich-karge FIAT Panda erscheint mittlerweile als Geniestreich, betrachtet man das heutige Konzernangebot.
Bereist man aber – wie der Verfasser dieses Beitrags – seit einem Vierteljahrhundert den italienischen Stiefel vom Schaft bis zur Absatzspitze, gibt es Hoffnung: Denn zumindest FIAT ist quicklebendig, je weiter man in den Süden kommt. Zwar sind dort einstige Straßenfeger wie Alfa Giulia, Alfasud und Alfa 75 mittlerweile ebenso ausgestorben wie hierzulande. Dasselbe gilt für echte Lancias aus Zeiten vor der Übernahme durch FIAT, die letzten attraktiven Modelle wie der Beta sind allenfalls auf Klassikerveranstaltungen zu sehen. Aber EINER hat im Alltag überlebt, und das ist der kleine FIAT 500 nebst Verwandtschaft. Das Original, wohlgemerkt.
In den nord- und mittelitalienischen Metropolen ist der „echte“ FIAT 500 zwar auch rar und eher als Lifestylemobil begehrt. Doch südlich von Rom, wo nach Ansicht der Norditaliener Afrika beginnt, ist der Cinquecento fast 40 Jahre nach Produktionsende noch ein selbstverständlicher Anblick. Das liegt keineswegs daran, dass die Süditaliener alle arme Schlucker wären, im Gegenteil: selbst im tiefen Süden, dem sogenannten Mezzogiorno, sind inzwischen aufgeblasene Wagen teutonischer Herkunft präsent. Doch das sind glücklicherweise Ausnahmen, die in absurdem Kontrast zu den Platzverhältnissen der intakt gebliebenen historischen Innenstädte stehen.
Auch wer sich erkennbar Teureres leisten kann, mag auf den 500er ungern verzichten, und das hat gleichermaßen nostalgische wie handfeste praktische Gründe. Wer in den geschichtsträchtigen Landschaften rund um Neapel und weiter südlich als Reisender unterwegs ist, freut sich anfangs noch über jeden der Zweizylinderzwerge, die einem begegnen. Doch rasch stellt man fest, dass einem täglich ohne weiteres ein Dutzend davon begegnen, und man beginnt wählerisch zu werden. Sicher wirft man noch einen Blick auf die erstklassig restaurierten, quasi im Neuzustand daherkommenden Modelle, die am Wochenende bei Sonnenschein ausgefahren und bewundert werden, wie das hierzulande auch der Fall ist. Doch als Liebhaber des Authentischen beginnt man sich für die Exemplare zu interessieren, die im Alltag eingesetzt werden und denen man das auch ansieht.
Da bringt La Nonna – die Großmutter –den Enkel mit dem schon etwas abgelebten 500er zu Schule, oft sind solche Alltagswagen noch in Erstbesitz. Andernorts stellt – jetzt wird’s klischeehaft – ein Fischer seinen von der Meeresluft etwas angegriffenen Cinquecento am Hafen ab, bevor er sich im Boot seiner Flickarbeit zuwendet. Ein Händler bringt Blumen in die Innenstadt, dazu nutzt er einen Autobianchi Panoramica, gewissermaßen das Schwestermodell des Fiat 500 Kombis Giardiniera, aber mit eigenständiger Karosserie. Der ausgeblichene Lack könnte noch der erste sein, und der Fahrer scheint sich keine Sorgen um etwaige Begehrlichkeiten zu machen, denn er hat den Wagen offen und mit Schlüssel im Zündschloss auf der Piazza stehengelassen. Auf dem Corso, der lokalen Einkaufsmeile stehen zwanglos gleich mehrere 500er in gepflegtem Zustand herum und warten darauf, dass Signora aus dem Schuhgeschäft zurückkehrt. Andernorts dienen 500er als Werbevehikel oder einfach als Hingucker in Geschäften. Und mit etwas Glück erhascht man später im Feierabendverkehr aus dem Linienbus einen Blick auf einen der vollbesetzten Winzlinge, die mit Vollgas heimwärts brausen.
Nach all diesen Eindrücken stellt man sich die Frage: Warum ausgerechnet der 500er? Warum nutzen und lieben ihn die Italiener immer noch? Eigentlich müsste er im Alltag längst ausgestorben sein, so wie bei uns inzwischen auch der VW Käfer. Immerhin wird der 500er seit bald vierzig Jahren nicht mehr produziert, er ist klein, primitiv und in der Papierform hoffnungslos unterlegen. Warum sieht man nicht seinen Nachfolger, den Fiat 126 oder den noch länger gebauten 127er, öfter? Wo sind all‘ die 1100 und 124er Limousinen geblieben, die doch einst so zahlreich und weitaus erwachsener waren? Der Verfasser ist sich sicher: Es ist die einzigartige Kombination aus vermeintlichen Schwächen und einer Form, die auch das Herz des fiesesten Mafiosos schwach werden lässt. Denn klein heißt in Süditalien: passt in die schmalste Gasse und den engsten Parkplatz, primitiv bedeutet: es kann fast nichts kaputtgehen, und wenn, ist es leicht und kostengünstig repariert. Geringe Leistung hat den Vorteil niedrigen Verbrauchs und fällt im natürlichen Revier des Wagens, der Innenstadt nicht auf. Der Mangel an PS zwingt förmlich zu zügigem Fahren und Ausnutzung der Verkehrsverhältnisse, eine Tugend, die in Zeiten stark motorisierter Blechgebirge hierzulande merkwürdigerweise immer seltener wird. Die liebenswerte Karosserie des Cinquecento sorgt seit Generationen zuverlässig für den „Habenwollen“-Reflex, nicht nur in der Damenwelt. Das garantiert Wertbeständigkeit.
In der Kombination dieser Eigenschaften ist ein funktionierender 500er, egal wie zerdellt und verspachtelt er daherkommt, durch kein anderes Auto zu ersetzen, schon gar kein modernes. Es ist kein Zufall, dass die Italiener gerne Fiat 500, Panda oder Uno fahren, aber den als Stadtwagen propagierten Smart mit Geringschätzung strafen. Allenfalls mag man sich fragen, weshalb der klassische Mini, der ja ganz ähnliche Qualitäten hat wie der 500er und sogar in Italien von Innocenti in Lizenz gebaut wurde, sich heute nicht einer vergleichbaren Beliebtheit erfreut. Das kann der Verfasser, der klassische Fiat wie frühe Minis gleichermaßen schätzt, nur damit erklären, dass die Italiener glühende Patrioten sind. Während uns statt des Europas der Vielfalt zu oft ein Europa Brüsseler Einfalt begegnet, wenden sich die Menschen vielleicht ganz unbewusst verstärkt dem zu, was ihr Bedürfnis nach Identität stillt. Wer die Klassikerszene länderübergreifend betrachtet, wird feststellen, dass zumindest dort die nationalen Autokulturen noch quicklebendig sind. Diese lokale Vielfalt sucht man bei Neufahrzeugen allerdings vergebens und das könnte eine Erklärung für die immer stärkere Hinwendung zu Klassikern sein, die ein eigenes Profil erkennen lassen. So wie in Deutschland der Käfer im breiten Volk die Herzen höher schlagen lässt, ist es in Italien eben der Fiat 500 mit dem Unterschied, dass er im Alltag noch präsent ist. Hier können wir vielleicht – wie in so vielen Dingen – von unseren südlichen Nachbarn etwas lernen. Interessanterweise nutzen im persönlichen Umfeld des Verfassers einige Bekannte einen Fiat 500, um sich den Alltag zu versüßen. Insofern soll dieser Beitrag auch dazu ermutigen, Klassiker ins ganz normale Leben zu integrieren.
Gastautor: Text & Fotos Michael Schlenger