Die Etrich-Taube aus der Frühzeit der Fliegerei

Die Beschäftigung mit den Anfängen motorisierter Mobilität ist auch deshalb spannend, weil sich in den Pioniertagen die Entwicklung in atemberaubendem Tempo vollzog. Heute wird zwar ständig von Innovationen gesprochen, doch z.B. beim Automobil haben sich die wesentlichen Konstruktionsprinzipien seit Jahrzehnten kaum verändert. Elektronische Gemischaufbereitung, Assistenzsysteme und computergestützte Entwicklung haben das Auto zweifellos in mancher Hinsicht vervollkommnet; grundlegend neue Wege sind damit aber nicht beschritten worden. Auch das von manchen gepriesene Elektroauto unterliegt denselben Einschränkungen wie seine Ahnen vor 100 Jahren: hohes Gewicht, geringe Reichweite, sinkende Speicherfähigkeit, Einsatz teurer Rohstoffe.

Ähnlich sieht es im Flugzeugbau aus. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es keine grundlegend neue Lösung mehr beim Antrieb oder bei der Steuerung gegeben. Auch hier bewirken der Einsatz von Elektronik, verbesserten Materialien und Fertigungsverfahren lediglich eine Optimierung gegebener Details. So wird die legendäre Beechcraft Bonanza seit 1945 im Wesentlichen unverändert gebaut.

Beechcraft Bonanza und Corvette C1
Beechcraft Bonanza und Corvette C1 © Fotoquelle und Bildrechte: Michael Schlenger

Vor gut 100 Jahren dagegen war das Entwicklungstempo in der Fliegerei rasant. Nach dem ersten Motorflug der Gebrüder Wright (1903) entwickelte sich das Flugzeug innerhalb weniger Jahre von einer instabilen und wenig leistungsfähigen Angelegenheit zu einem zuverlässigen, vielfältig einsetzbaren Transportmittel. Die damaligen Ingenieure waren oft Einzelkämpfer, die auch vor unkonventionellen Lösungen nicht zurückschreckten.

Ein Flugpionier, der seinerzeit mit einer eigenwilligen Konstruktion durchschlagenden Erfolg hatte, war Igo Etrich (1879-1967) aus Trautenau in Böhmen (heute Tschechien). Mit der 1910 vorgestellten „Taube“ entwickelte er das erste in großen Stückzahlen gebaute Flugzeug der Welt. Unter Kennern genießt die Etrich-Taube dank ihrer außergewöhnlichen Flugstabilität bis heute großes Ansehen.

Eine der Besonderheiten der Taube war die Gestaltung der Tragflächen. Sie war von der Form des Samens der Tropenpflanze Zanonia inspiriert, der eine hohe Eigenstabilität im Schwebeflug aufwies. 1905 stellte Etrich einen noch unmotorisierten Flugapparat vor, der eine entsprechende Flügelform aufwies. Nach einigen Rückschlägen präsentierte er 1909 mit seinem Kompagnon Karl Illner ein mit einem französischen Clerget-Motor bestücktes Flugzeug, dessen Tragflächen ebenfalls die markante Zanonia-Form aufwiesen. Die Steuerung um die Längsachse erfolgte nicht wie später üblich durch Querruder, sondern durch Verwindung der Tragflächenenden. Nach einigen Verfeinerungen folgte 1910 schließlich die „Taube“, die dank etlicher Rekordflüge auf große Resonanz stieß.

Taube 6-Zylinder Austro-Daimler
Taube 6-Zylinder Austro-Daimler

Noch 1910 wurde der Clerget-Motor der Taube durch ein stärkeres Aggregat von Ferdinand Porsche ersetzt, der damals Direktor der österreichischen Daimler-Motoren GmbH war. Der Erfolg der Taube-Konstruktion spiegelte sich in zahlreichen Lizenznachbauten wider. Zu den bekanntesten Lizenznehmern gehörte die Firma von Edmund Rumpler, die sich bis dahin vergeblich um einen eigenen Flugzeugtyp bemüht hatte. Die bekannte Rumpler-Taube war also im Kern eine von Igo Etrich übernommene Konstruktion. Auf einem Lizenznachbau der Taube ging übrigens der damals 16-jährige spätere Jagdflieger Ernst Udet zum ersten Mal in die Luft.

Neben den zahlreichen Lizenznachbauten wurde die Taube ab 1912 im schlesischen Liebau (heute Lubawka, Polen) in den Etrich Flieger-Werken in Serie produziert. Das folgende Bild zeigt eine originale Zeitschriftenanzeige der Etrich Flieger-Werke GmbH aus dem Jahr 1913.

Anzeige Etrich Flieger Werke 1913
Anzeige Etrich Flieger Werke 1913 © Fotoquelle: Sammlung Michael Schlenger

Die Taube wurde dank ihres gutmütigen Flugverhaltens vor allem als Schulungsmaschine geschätzt. Zu Beginn des 1. Weltkriegs wurde sie noch als Beobachtungsflugzeug verwendet. Für Kampfeinsätze war sie jedoch trotz zwischenzeitlicher Leistungssteigerung zu schwach und wurde durch Typen von Albatros, Aviatik, Pfalz und Fokker überflügelt. Nach Kriegsende war die Taube Geschichte. Sie sorgte aber für anhaltende Inspiration. Speziell die für hohe Trudelsicherheit sorgende Tragflächenform wurde bis Anfang der 1930er Jahre in diversen Prototypen aufgenommen, beispielsweise von Focke-Wulff, aber auch nochmals von Igo Etrich selbst.

Eine originale Taube aus Rumpler-Lizenzfertigung ist im Deutschen Museum München zu sehen. Außerdem wurden von Enthusiasten etliche Nachbauten hergestellt. Eine äußerlich exakte flugfähige Kopie existiert in der Sammlung des Transportation Museum in Owls Head (USA). Das nachfolgende Video zeigt die Maschine am Boden und besonders eindrucksvoll im Flug.

https://youtu.be/–NLkK74hNw
© Videoquelle YouTube und Urheberrecht: Runway 17 at OHTM

Die spannende Entwicklungsgeschichte der Taube erzählt Hanus Salz in seinem sorgfältig recherchierten und umfangreich bebilderten Buch „Die Etrich-Taube der erste Flugzeug-Bestseller der Welt“. Darin geht er auch auf moderne Nachbauten und die Popularität der Taube in Modellfliegerkreisen ein.

Text: Michael Schlenger