Ein außergewöhnlich originaler Renault-Veteran von 1913

Man glaubt nicht, dass heute noch solche Entdeckungen möglich sind: Ein mehr als hundert Jahre alter Renault, der nie restauriert wurde und sich seit Auslieferung stets im Besitz derselben Familie befunden hat. Ein Wagen, an dem praktisch alles original ist und nur leichte Gebrauchsspuren aufweist – der Lack, die Lederpolster, selbst die empfindliche Stoffbespannung von Türverkleidungen und Himmel. Auch jedes technische Detail ist komplett und funktionstüchtig.

Ein solches Fundstück – ein Renault 22/24PS Type Coupé-Chauffeur aus dem Jahr 1913 – wurde am 6. Februar 2015 beim Auktionshaus Artcurial angeboten. Die zahlreichen hochauflösenden Bilder des Wagens auf der Internetseite des Auktionshauses Artcurial machten den wahrhaft einzigartigen Zustand erlebbar.

Der Wagen hat sein gesamtes Dasein im Besitz einer Familie verbracht, die auf einem Schloss im Languedoc in Südwestfrankreich residiert. Der Urgroßvater des heutigen Besitzers hatte den Wagen seinerzeit ohne Karosserie gekauft und anschließend bei Renaudin et Besson in Paris ein Blechkleid schneidern lassen. Die Karosserie bot einen luxuriös mit Leder und Damaststoff ausgestatteten Fahrgastraum, während der Chauffeur davor auf einer überdachten Sitzbank saß. Die Instrumente des Wagens wurden von der renommierten Firma Kirby Beard & Co. zugeliefert, die auch damals für Rolls-Royce arbeitete.

Bei der Beleuchtung entschied man sich für eine Mischlösung. Aus Sorge um Kurzschlüsse und mögliche Brandgefahr wurde lediglich im Innenraum eine elektrisch betriebene Lampe installiert, die ihren Strom aus Batterien unter dem Fußboden bezieht. Die gewaltigen Messingscheinwerfer sind gasbetrieben, der zugehörige Druckbehälter befindet sich auf dem Trittbrett. Für das rote Schlusslicht dagegen musste Ölbetrieb genügen. Die Frontbeleuchtung wurde übrigens nach Auskunft des Besitzers vor längeren Reisen meist demontiert und sorgfältig verpackt mit der Eisenbahn an den Zielort vorausgeschickt, da man eine Beschädigung durch herumfliegende Steine auf den oft noch unbefestigten Straßen fürchtete.

Seinen wohl heikelsten Einsatz erlebte der Renault bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Der Vater des Besitzers hielt sich damals in England zu einem Sprachkurs auf. England hatte Deutschland einige Tage vor Frankreich den Krieg erklärt und nun erhielt die Familie ein Telegramm der französischen Botschaft in London mit der Aufforderung, den jungen Mann umgehend in die Heimat zurückzuholen. Dazu wurde der Renault umgehend mit einem kompletten Satz Reifen beladen und mit dem Chauffeur nach Calais geschickt. An Fahren in der Nacht war nicht zu denken, doch dank ununterbrochene Fahrt von frühmorgens bis Sonnenuntergang schaffte man die beinahe 1.000 km lange Fahrt in nur zwei Tagen.

In den späten 1920er Jahren wurde der treue Renault dann in den Ruhestand geschickt. Sorgfältig konserviert und aufgebockt stand er von nun an geschützt in einer Halle auf dem Anwesen der Familie. Regelmäßig wurde der Motor durchgedreht, um ihn vor dem Festgehen zu bewahren.

Einmal noch erlebte der Renault bewegte Tage, als sich die deutsche Wehrmacht im Herbst 1944 aus Südwestfrankreich zurückzog und alle verfügbaren Fahrzeuge requirierte. So kam von der örtlichen Kommandantur die Aufforderung, den Wagen fahrbereit zu machen, vermutlich hatte man ihn für einen Offizier vorgesehen. Möglicherweise wussten die deutschen Soldaten auch gar nicht, wie alt das Fahrzeug zu diesem Zeitpunkt bereits war. Jedenfalls stellte man es wieder auf seine Räder, was die brüchigen Reifen mit komplettem Luftverlust quittierten. Mangels Ersatz blieb dem Renault die Beschlagnahmung erspart, er wurde wieder auf seine Blöcke gehoben und schlummerte von nun an ungestört weiter. So blieb das Fahrzeug mit seiner herrlichen Patina und technisch funktionsfähig der Nachwelt erhalten.

Leider hat der Renault noch keinen neuen Besitzer gefunden. Er wurde parallel zu der spektakulären Auktion der Kollektion Baillon angeboten, wurde aber nicht verkauft. Dabei dürfte nicht nur der stolze Schätzpreis von 300-500.000 Euro ausschlaggebend gewesen sein, sondern auch die starke Konkurrenz der in der internationalen Presse ausgiebig präsentierten Wagen aus dem Baillon-Fundus.

Es bleibt zu hoffen, dass sich über kurz oder lang ein Liebhaber für den ehrwürdigen Renault findet, dem weniger an prestigeträchtigen Namen und der Aussicht auf Wertsteigerung gelegen ist als am Erhalt dieses einzigartigen hundertjährigen Zeitzeugen für die Zukunft.

Text: Michael Schlenger